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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller
GA 2

4. Feststellung des Begriffes der Erfahrung

Zwei Gebiete stehen also einander gegenüber, unser Denken und die Gegenstände, mit denen sich dasselbe beschäftigt. Man bezeichnet die letzteren, insofern sie unserer Beobachtung zugänglich sind, als den Inhalt der Erfahrung. Ob es außer unserem Beobachtungsfelde noch Gegenstände des Denkens gibt und welcher Natur dieselben sind, wollen wir vorläufig ganz dahingestellt sein lassen. Unsere nächste Aufgabe wird es sein, jedes von den zwei bezeichneten Gebieten, Erfahrung und Denken, scharf zu umgrenzen. Wir müssen erst die Erfahrung in bestimmter Zeichnung vor uns haben und dann die Natur des Denkens erforschen. Wir treten an die erste Aufgabe heran.

Was ist Erfahrung? Jedermann ist sich dessen bewußt, daß sein Denken im Konflikte mit der Wirklichkeit angefacht wird. Die Gegenstände im Raume und in der Zeit treten an uns heran; wir nehmen eine vielfach gegliederte, höchst mannigfaltige Außenwelt wahr und durchleben eine mehr oder minder reichlich entwickelte Innenwelt. Die erste Gestalt, in der uns das alles gegenübertritt, steht fertig vor uns. Wir haben an ihrem Zustandekommen keinen Anteil. Wie aus einem uns unbekannten Jenseits entspringend, bietet sich zunächst die Wirklichkeit unserer sinnlichen und geistigen Auffassung dar. Zunächst können wir nur unseren Blick über die uns gegenübertretende Mannigfaltigkeit schweifen lassen.

Diese unsere erste Tätigkeit ist die sinnliche Auffassung der Wirklichkeit. Was sich dieser darbietet, müssen wir festhalten. Denn nur das können wir reine Erfahrung nennen.

Wir fühlen sogleich das Bedürfnis, die unendliche Mannigfaltigkeit von Gestalten, Kräften, Farben, Tönen usw., die vor uns auftritt, mit dem ordnenden Verstande zu durchdringen. Wir sind bestrebt, die gegenseitigen Abhängigkeiten aller uns entgegentretenden Einzelheiten aufzuklären. Wenn uns ein Tier in einer bestimmten Gegend erscheint, so fragen wir nach dem Einflusse der letzteren auf das Leben des Tieres; wenn wir sehen, wie ein Stein ins Rollen kommt, so suchen wir nach anderen Ereignissen, mit denen dieses zusammenhängt. Was aber auf solche Weise zustande kommt, ist nicht mehr reine Erfahrung. Es hat schon einen doppelten Ursprung: Erfahrung und Denken.

Reine Erfahrung ist die Form der Wirklichkeit, in der diese uns erscheint, wenn wir ihr mit vollständiger Entäußerung unseres Selbstes entgegentreten.

Auf diese Form der Wirklichkeit sind die Worte anwendbar, die Goethe in dem Aufsatze «Die Natur» ausgesprochen hat: «Wir sind von ihr umgeben und umschlungen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf.»

Bei den Gegenständen der äußeren Sinne springt das so in die Augen, daß es wohl kaum jemand leugnen wird. Ein Körper tritt uns zunächst als eine Vielheit von Formen, Farben, von Wärme- und Lichteindrücken entgegen, die plötzlich vor uns sind, wie aus einem uns unbekannten Urquell hervorgegangen.

Die psychologische Überzeugung, daß die Sinnenwelt, wie sie uns vorliegt, nichts an sich selbst ist, sondern bereits ein Produkt der Wechselwirkung einer uns unbekannten molekularen Außenwelt und unseres Organismus, widerspricht unserer Behauptung nicht. Wenn es auch wirklich wahr wäre, daß Farbe, Wärme usw. nichts weiter sind, als die Art, wie unser Organismus von der Außenwelt affiziert wird, so liegt doch der Prozeß, der das Geschehen der Außenwelt in Farbe, Wärme usw. umwandelt, gänzlich jenseits des Bewußtseins. Unser Organismus mag dabei welche Rolle immer spielen: unserem Denken liegt als fertige, uns aufgedrungene Wirklichkeitsform (Erfahrung) nicht das molekulare Geschehen, sondern jene Farben, Töne usw. vor.

Nicht so klar liegt die Sache mit unserem Innenleben. Eine genauere Erwägung wird aber hier jeden Zweifel schwinden lassen, daß auch unsere inneren Zustände in derselben Form in den Horizont unseres Bewußtseins eintreten wie die Dinge und Tatsachen der Außenwelt. Ein Gefühl drängt sich mir ebenso auf wie ein Lichteindruck. Daß ich es in nähere Beziehung zu meiner eigenen Persönlichkeit bringe, ist in dieser Hinsicht ohne Belang. Wir müssen noch weiter gehen. ,Auch das Denken selbst erscheint uns zunächst als Erfahrungssache. Schon indem wir forschend an unser Denken herantreten, setzen wir es uns gegenüber, stellen wir uns seine erste Gestalt als von einem uns Unbekannten kommend vor.

Das kann nicht anders sein. Unser Denken ist, besonders wenn man seine Form als individuelle Tätigkeit innerhalb unseres Bewußtseins ins Auge faßt, Betrachtung, das heißt es richtet den Blick nach außen, auf ein Gegenüberstehendes. Dabei bleibt es zunächst als Tätigkeit stehen. Es würde ins Leere, ins Nichts blicken, wenn sich ihm nicht etwas gegenüberstellte.

Dieser Form des Gegenüberstellens muß sich alles fügen, was Gegenstand unseres Wissens werden soll. Wir sind unvermögend, uns über diese Form zu erheben. Sollen wir an dem Denken ein Mittel gewinnen, tiefer in die Welt einzudringen, dann muß es selbst zuerst Erfahrung werden. Wir müssen das Denken innerhalb der Erfahrungstatsachen selbst als eine solche aufsuchen.

Nur so wird unsere Weltanschauung der inneren Einheitlichkeit nicht entbehren. Sie würde es sogleich, wenn wir ein fremdes Element in sie hineintragen wollten. Wir treten der bloßen reinen Erfahrung gegenüber und suchen Innerhalb ihrer selbst das Element, das über sich und über die übrige Wirklichkeit Licht verbreitet.